Das fahle Licht der Taschenlampe tanzte über die feuchten Steinwände, während Sofia vorsichtig die ausgetretenen Stufen hinabstieg. Der modrige Geruch der Katakomben von Neapel umhüllte sie wie ein schwerer Vorhang. Als Archäologin hatte sie schon viele unterirdische Stätten erforscht, aber diese uralten Gänge unter der quirligen italienischen Metropole hatten eine ganz besondere Atmosphäre.
"Vorsicht mit dem Schritt", rief Marco, ihr italienischer Kollege, von weiter unten. Seine Stimme hallte unheimlich von den Wänden wider. Sofia nickte, obwohl er sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Der Tuff-Stein unter ihren Füßen war rutschig vom Kondenswasser, das sich über die Jahrhunderte gebildet hatte.
Sie waren hier, um einen neu entdeckten Gang zu untersuchen, der bei Bauarbeiten für die U-Bahn freigelegt worden war. Die Stadt hatte das Projekt sofort gestoppt und ein Team von Experten zusammengestellt. Sofia war aus Deutschland angereist, da sie sich auf antike Bestattungsriten spezialisiert hatte.
Als sie die unterste Stufe erreichte, weitete sich der Gang zu einer Art Kammer. Marco stand bereits in der Mitte und leuchtete die Wände ab. "Sieh dir das an", sagte er aufgeregt und deutete auf eine Reihe von in den Stein gehauenen Nischen. Sofia trat näher und strich vorsichtig mit behandschuhten Fingern über die raue Oberfläche.
"Interessant", murmelte sie. "Die Form unterscheidet sich von den bekannten Grabkammern. Und sieh dir diese Symbole an." Ihre Taschenlampe beleuchtete seltsame Zeichen, die um die Nischen herum eingeritzt waren. Sie zückte ihr Notizbuch und begann zu skizzieren.
Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, jeden Zentimeter der Kammer zu dokumentieren. Die Luft wurde immer stickiger, aber ihre Begeisterung über die Entdeckung ließ sie die Unbequemlichkeit vergessen. Als Sofia eine besonders gut erhaltene Inschrift fotografierte, stutzte sie plötzlich.
"Marco, komm mal her", rief sie. "Diese Zeichen - sie ähneln etruskischer Schrift, aber irgendetwas stimmt nicht." Marco beugte sich über ihre Schulter und runzelte die Stirn. "Du hast Recht. Es sieht aus wie eine Mischung verschiedener antiker Schriften."
Ein Geräusch ließ sie beide zusammenfahren. Ein leises Knirschen, wie von sich bewegendem Gestein. "Was war das?", flüsterte Sofia. Marco leuchtete den Gang hinauf. "Wahrscheinlich nur ein Echo von oben. Die U-Bahn-Arbeiten erzeugen manchmal Vibrationen."
Sofia war nicht überzeugt. Sie hatte das Gefühl, dass die Luft plötzlich noch schwerer geworden war. Als sie sich wieder der Wand zuwandte, fiel ihr Blick auf einen feinen Riss, der vorher definitiv noch nicht da gewesen war. "Marco...", begann sie, aber da ertönte erneut das Knirschen, diesmal lauter.
Die nächsten Sekunden vergingen wie in Zeitlupe. Der Riss weitete sich vor ihren Augen, kleine Steinchen rieselten zu Boden. "Raus hier!", schrie Marco und packte ihren Arm. Sie stolperten zur Treppe, während hinter ihnen ein dumpfes Grollen anschwoll.
Sie erreichten die erste Stufe, als der Boden unter ihnen zu beben begann. Sofia klammerte sich am Geländer fest, ihr Herz hämmerte. Das Grollen wurde zu einem ohrenbetäubenden Krachen. Staub wirbelte auf und nahm ihnen die Sicht.
Keuchend erreichten sie den oberen Gang, wo bereits andere Mitglieder des Teams auf sie warteten. "Was ist passiert?", rief jemand. Sofia drehte sich um und starrte in die stauberfüllte Dunkelheit hinunter. Als sich die Luft langsam klärte, sahen sie, dass der Zugang zur Kammer durch herabgefallene Steine vollständig blockiert war.
In den folgenden Tagen wurde fieberhaft diskutiert, wie man die Kammer wieder freilegen könnte. Sofia verbrachte Stunden damit, ihre Notizen und Fotos zu studieren. Die seltsamen Schriftzeichen ließen ihr keine Ruhe. Je länger sie sich damit beschäftigte, desto mehr hatte sie das Gefühl, dass sie kurz vor einer bedeutenden Entdeckung gestanden hatten.
Eine Woche später saß sie in ihrem Hotelfenster und blickte über die nächtliche Stadt. Der Vesuv zeichnete sich dunkel gegen den sternenklaren Himmel ab. In ihrem Kopf formte sich langsam eine Theorie. Die Symbole, die Architektur der Kammer - alles deutete darauf hin, dass sie auf Überreste einer bisher unbekannten Kultur gestoßen waren, die lange vor den Römern hier gelebt hatte.
Marco hatte ihr am Nachmittag eine SMS geschickt. Die Stadtverwaltung hatte die Freigabe für weitere Untersuchungen erteilt. In zwei Tagen würden sie mit schwerem Gerät beginnen, den Zugang freizuräumen. Sofia spürte, wie sich ihr Magen vor Aufregung zusammenzog. Was würden sie finden, wenn sie die Kammer wieder betreten konnten?
Sie griff nach ihrem Notizbuch und schlug die Seite mit den Symbolskizzen auf. Im schwachen Licht der Nachttischlampe begannen die Zeichen vor ihren müden Augen zu verschwimmen. Für einen Moment meinte sie, eine Bewegung wahrzunehmen, als würden sich die Linien neu ordnen. Sie blinzelte und schüttelte den Kopf.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, lag das Notizbuch aufgeschlagen auf ihrer Brust. Sie hatte von der Kammer geträumt, von endlosen dunklen Gängen und von einer Stimme, die in einer fremden Sprache zu ihr sprach. Die Morgensonne fiel durch das Fenster und ließ den Staub in der Luft tanzen. Sofia setzte sich auf und betrachtete ihre Skizzen im Tageslicht. Plötzlich weiteten sich ihre Augen.
"Das kann nicht sein", murmelte sie. Sie griff nach ihrem Laptop und rief hastig mehrere Forschungsarbeiten auf. Ihre Hände zitterten leicht, als sie die Seiten durchblätterte. Die Symbole - sie hatte sie schon einmal gesehen, vor Jahren, bei Ausgrabungen in Etrurien. Aber damals waren sie als Fälschungen abgetan worden.
Sie griff nach ihrem Handy und wählte Marcos Nummer. Nach dem dritten Klingeln nahm er ab. "Sofia? Was ist los?" "Marco, wir müssen sofort zum Institut. Ich glaube, ich weiß, was die Symbole bedeuten." Sie hörte, wie er scharf die Luft einzog. "Ich bin in zwanzig Minuten da."
Während sie auf ihn wartete, packte Sofia ihre Unterlagen zusammen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Wenn sie Recht hatte, dann würde diese Entdeckung die Geschichte Neapels neu schreiben. Die Kammer war kein gewöhnliches Grab - sie war ein Schlüssel zu einer vergessenen Zivilisation, die ihre Spuren tief unter den Straßen der modernen Stadt hinterlassen hatte.
Ein Hupen von der Straße riss sie aus ihren Gedanken. Marco wartete bereits in seinem Wagen. Sofia warf sich ihre Tasche über die Schulter und eilte die Treppe hinunter. Die Geheimnisse der Katakomben warteten darauf, enthüllt zu werden, und sie würde nicht ruhen, bis sie die Wahrheit ans Licht gebracht hatte.
Als sie ins Auto stieg, warf sie einen letzten Blick zum Vesuv hinüber. Der alte Vulkan thronte wie ein stummer Wächter über der Stadt und ihren unterirdischen Geheimnissen. Sofia lächelte. Dies war erst der Anfang ihrer Entdeckungsreise in die geheimnisvolle Unterwelt von Neapel.
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